S. Hödl u.a. (Hgg.): Hofjuden und Landjuden

Titel
Hofjuden und Landjuden. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit


Herausgeber
Hödl, Sabine; Staudinger, Barbara; Rauscher, Peter
Erschienen
Berlin 2004: Philo Verlag
Anzahl Seiten
399 S.
Preis
€ 19,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Litt, Hebräische Universität Jerusalem, Israel

Die vorliegende Sammlung von Beiträgen zur Thematik jüdischen Lebens in der Frühen Neuzeit basiert auf den wissenschaftlichen Vorträgen, die von den AutorInnen auf der 12. Internationalen Sommerakademie des Instituts für Geschichte der Juden in Österreich im Jahr 2002 gehalten wurden. Insgesamt ist die von den Herausgebern im Vorwort geäußerte Intention zu begrüßen, „jüdische Geschichte in Mitteleuropa als eine Einheit über die heutigen Staatsgrenze hinweg zu begreifen" (S. 11). Folgerichtig enthält der Band Beiträge über die Juden im heutigen Deutschland, Österreich und Tschechien, aber auch Aufsätze, die bereits in ihrem Ansatz regional übergreifend konzipiert wurden. Diese richtige Perspektive wurde bereits in den vergangenen Jahren wiederholt für Themen der jüdischen Geschichte gewählt und hat sich mit ihren komparativen Intentionen zweifellos für den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn ausgezahlt, da sie den Realitäten jüdischen Lebens in jener Epoche ganz klar Rechnung trägt.

In der Einleitung der HerausgeberInnen wird der Gesamtkontext jüdischen Lebens und seiner Begleiterscheinungen knapp skizziert und das Anliegen der Beiträge genannt. Chronologisch richtig wurde der Aufsatz von Michael Toch über die spätmittelalterlichen Rahmenbedingungen jüdischer Existenz an den Anfang gesetzt. Toch thematisiert hier das Phänomen der serienweise erfolgten Verfolgungen und Austreibungen, die die jüdische Bevölkerung im Reich nachhaltig prägten und schwächten. Unter Nutzung quantitativer Methoden gibt Toch einen Gesamtüberblick über die Problematik, wobei er sich wesentlich auf die Grundlage der enzyklopädischen Bände der Germania Judaica III stützt. Mit seiner Methodik kommt Toch zu bemerkenswerten Erkenntnissen über zeitliche Intervalle von Verfolgungen und Vertreibungen. Der schlüssig strukturierte Beitrag geht auf die zeitlichen Abläufe, die Typologie der Verfolgungen, Strukturen, die jüdischen Reaktionen, Begründungen und Hintergründe, sowie Ergebnisse ein.

Mit Friedrich Battenberg widmete sich ein weiterer langjähriger Kenner der Thematik einem Einzelthema, hier den frühneuzeitlichen Reflexionen über die rechtliche Stellung der Juden am Beispiel Johannes Reuchlins. Reuchlin war eine der wichtigsten Personen in dem juristischen Transformationsprozess von der mittelalterlichen Kammerknechtschaft der Juden hin zum Judenregal, also der Verlagerung der Rechtsverankerung im Reich hin zu den Territorien. Battenberg geht dabei auf die Feinheiten in Reuchlins Rechtsdenken im Zusammenhang mit dessen Interpretation ein, wonach die Juden Bürger des Römischen Reiches seien. Durch seine hohe Kompetenz in diesen Fragen gelingt es Battenberg, die Problematik sehr tief gehend darzustellen und Reuchlins zeitweise ambivalenter Rolle und Denkweise überzeugend auf den Grund zu gehen.

Rotraud Ries liefert in ihrem Beitrag eine sehr gelungene Umschau zum Thema der jüdischen Elite und deren politischem Handeln während des 16. und 17. Jahrhunderts. Die Gliederung ihres Aufsatzes weist eine sicher nicht zufällige Parallele zu den politischen Entwicklungen in jener Epoche auf: Widmet Ries sich am Anfang zunächst den oft auf Reichsebene agierenden jüdischen Persönlichkeiten wie Josel von Rosheim oder den lange nicht gebührend wahrgenommenen Reichsrabbinern, so ist der zweite Teil ihrer Ausführungen mehr den regionalen jüdischen Eliten vorbehalten, vor allem aus dem heutigen niedersächsischen Raum. Dabei trat besonders die Familie Schay immer wieder mit verschiedenen Vertretern auf und verdeutlicht das Generationen übergreifende Handeln solcher herausragenden Personen. Der instruktive Beitrag zeichnet sich vor allem durch die gewissenhafte und offenbar lückenlose Spurensuche in der verstreuten älteren und jüngeren Forschungsliteratur aus.

Barbara Staudinger trug zu dem Band einen übersichtlich gegliederten und gut eingeleiteten Aufsatz zu den Handlungsstrategien von Juden bei Rechtsangelegenheiten, die vor dem Wiener Reichshofrat verhandelt wurden, bei. Sie stellt damit quasi den Gegenpart zu der von Battenberg dargestellten passiven Rechtsituation der Juden vor. Die beeindruckende Quellenbasis der Studie zeugt von der reichen Erfahrung der Autorin im Umgang mit den Reichshofratsakten. Nach Staudinger war es vor allem die jüdische Elite, die die Einrichtung des Reichshofrates für Klagen und die Einforderung von Recht nutzte. Staudinger stellt drei Fälle exemplarisch vor, bei denen Hofjuden als aktiv handelnde Prozessparteien auftraten: Samuel Ulman, Abraham Ries und Jakob Fröschl, die aus anderen Zusammenhängen der Fachwelt einschlägig bekannt sind. Die Autorin interpretiert die einzelnen Fälle eingehend und kann dabei das erfolgreiche Handeln der drei herausragenden Hofjuden überzeugend darstellen.

Der einzige Beitrag des Bandes, der sich mit Fragen der Geschlechtergeschichte im Rahmen frühneuzeitlich-jüdischen Lebens befasst, ist der von Birgit Klein. Auch sie widmete sich einem rechtshistorischen Aspekt, indem sie die Handlungsmöglichkeiten von jüdischen Frauen in Erbschaftsangelegenheiten überprüfte. Dabei stand als Ausgangsgrundlage der Ausschluss von jüdischen Frauen aus der Erbschaftsfolge nach jüdischem Gesetz, der von jüdischen und auch christlichen Gerichten aufgegriffen und mehrfach unterschiedlich interpretiert wurde, je nach Sachlage und Interessen der jeweiligen Parteien. Klein gründet ihren Beitrag auf drei Beispielen aus dem 17. und 18. Jahrhundert, wobei bei einem Fall, der sich im 18. Jahrhundert in Leipzig ereignete, auch Moses Mendelssohn als Autorität eingeschaltet wurde, weshalb Kleins Studie hier nicht nur Wissenswertes zur Geschlechtergeschichte bietet, sondern auch die Rolle des jüdischen Aufklärers aus einer ungewöhnlichen Perspektive betrachtet.

Die Möglichkeiten jüdischen Lebens in einer komplizierten Grenzregion, nämlich der zwischen Österreich und den türkischen Territorien, werden von Reinhard Buchberger in seiner bemerkenswerten Studie über Lebl Höschl ausgelotet. Dieser war ein Wiener Hofjude, der nach der Vertreibung von 1670 nach Ofen (Buda) zog, von wo er weiter seinen Geschäften in Österreich nachging. Buchberger sichtete für seinen Aufsatz eine größere Anzahl von Quellen und die verfügbare Literatur und konnte durch die Prosopografie das Leben Lebl Höschls im kulturellen und politischen Grenzbereich weitgehend nachvollziehen. Eine Paradoxie im Leben des Wiener Juden war der Umstand, dass er nach seiner Vertreibung von Ofen aus Informationen für den Wiener Hof sammelte, also quasi als Spion für die Seite tätig war, die seinen unfreiwilligen Weggang aus Wien verschuldet hatte. Dies zeigt an einem sicher ungewöhnlichen Beispiel, welchen Zwängen sich Juden in jener Zeit ausgesetzt sahen, denn Lebl Höschl tat dies vor allem um seine wirtschaftlichen Interessen im Machtbereich der Habsburger wahrnehmen zu können. Wie risikoreich dann das Leben in einer so hoch komplizierten Situation sein konnte, zeigt der gewaltsame Tod des ehemaligen Hofjuden 1681, als er auf offener Landstraße erschlagen wurde.

Wolfgang Treue griff in seinem Beitrag das im Titel des Bandes genannte (zweite) Anliegen auf: das der Landjuden. In seiner Studie behandelt er das jüdische Leben in Hessen-Marburg, und die vorgestellten Beispiele bezeugen, dass das Phänomen der Akkulturation keineswegs ein urbanes war, sondern in der typischen frühneuzeitlichen ländlichen Zerstreuung der Juden durchaus ein alltägliches Problem darstellte. Die zahlreichen christlich-jüdischen Begegnungen waren dabei keinesfalls immer nur feindlicher Natur, wie Treue überzeugend belegen kann. Seine Studie kann somit auch als Plädoyer für eine entzerrte und nüchterne Betrachtung der frühneuzeitlich-jüdischen Geschichte verstanden werden, die sich mehr an den Realitäten orientiert und weniger die Schatten der Schoa auf den deutlich früheren Forschungsgegenstand projiziert. Dieser Ruf dürfte heute sicher nicht mehr ungehört verhallen.

Ähnlich wie Treue stellte auch Stefan Rohrbacher in seinen Beitrag die Landjuden in den Mittelpunkt, hier aber mehr aus der inneren Perspektive betrachtet. Rohrbacher verwendet innerjüdisches Material, was ihm ermöglicht, sonst (noch) ungewohnte Einblicke in das alltägliche Leben von Juden in der Epoche zu gewinnen. Der Autor versucht, ein Situationsbild der inneren Verfasstheit der Juden zu zeichnen und zeichnet dabei, ganz ähnlich wie Treue, die nicht wenigen Kompromisse auf, auf die sich Juden in Hinsicht auf die Religionspraxis in der extremen Zerstreuung einlasen mussten, so wie sie sich vor allem in der Responsenliteratur jener Zeit wieder spiegeln.

Ein Thema, das nahezu jedem interessierten Forscher zur frühneuzeitlich-jüdischen Geschichte begegnet, ist das von Juden und Zöllen auf Straßen, Flüssen und an Toren. Trotz dieser beinahe elementaren Verbindung für die jüdischen Lebensrealitäten in der Frühen Neuzeit ist bislang von der Forschung zu dieser Frage erstaunlich wenig geleistet worden. Der Beitrag von Peter Rauscher im vorliegenden Band ändert daran einiges. Der Autor beschäftigt sich im weitesten Sinne mit der Problematik anhand einer Reihe von konkreten Beispielen, wobei er sich dabei auf eine breite Quellenbasis stützen kann. Inhalt der aktenkundigen Fälle waren dabei meist bewusste, unbewusste oder nachgesagte Zollverletzungen durch Juden, aber Rauscher geht auch auf das weniger bekannte Phänomen der jüdischen Zollpächter ein. Dieser Berufsstand spiegelt sich bis heute u.a. im Familiennamen Mautner wieder.

Maria Buňatová liefert in ihrem Aufsatz sehr bedeutende Einblicke in die bislang wenig bekannte Frühgeschichte der wichtigsten jüdischen Gemeinde Mährens in Nikolsburg (Mikulov). Wie nicht wenige andere Großgemeinden, so nahm auch die in Nikolsburg im 16. Jahrhundert einen bedeutenden Aufschwung und entwickelte sich zur unbestrittenen Hauptgemeinde dieser Region. Besondere Bedeutung hat Buňatovás Beitrag nicht nur wegen der Tatsache, dass er durch die deutsche Sprache endlich auch der hiesigen Forschung ein wichtiges Arbeitsmittel in die Hand gibt, sondern auch wegen der akribischen Auswertung zahlreicher Primärquellen, die die Studie zum aktuellsten machen, was es zurzeit über die Nikolsburger Juden in der Frühen Neuzeit gibt.

Pavel Kocmans abschließender Beitrag über die Juden in der mährischen Justiz im 16. Jahrhundert rundet den Band sinnvoll ab, da er eine wichtige Ergänzung zu den vorherigen Studien mit rechtshistorischen Inhalten darstellt und außerdem diese Fragestellung für eine Region anwendet, die in dieser Hinsicht noch einen völlig weißen Fleck darstellt. Nach Kocman muss bei der Untersuchung der Problematik nach Landrecht, sowie Stadt- und Marktrecht getrennt werden. Wann immer christlich-jüdische Konflikte, meist wirtschaftlicher Art, vor einem Landgericht ausgetragen wurden, mussten sich Juden durch einen Christen vertreten lassen, da sie selbst nicht als rechtswürdig erachtet wurden. Dennoch verweist Kocman auf die zeitweise recht resolute Vorgehensweise von Juden, um selbst in dieser ungünstigen Konstellation ihre Interessen mit Erfolg durchzusetzen.

Insgesamt stellt der Band einen weiteren Meilenstein dar, um die oft beklagte Forschungslücke – selbst die Einleitung verweist im ersten Satz auf diesen Umstand (S. 9) – auf dem Gebiet der frühneuzeitlich-jüdischen Geschichte noch etwas weiter zu schließen. Durch ihre grenzübergreifende Ausrichtung und die insgesamt recht hohe Qualität der Einzelbeiträge ist diese Sammlung von Aufsätzen beispielhaft, und wird durch getrennte Personen- und Ortsregister leicht erschließbar. Wie so oft, so ist auch hier zu konstatieren, dass gerade die Untersuchungen, die sich auf eine breite und weitgehend unbekannte Quellenbasis stützen, die innovativsten sind, und der Rezensent wünscht dem Band insgesamt die Aufmerksamkeit der Fachwelt, die ihm zweifellos gebührt – auch über die engen Grenzen der jüdischen Geschichte hinaus.

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